Dorothea Däscher, eine Prättigauerin im Bergell
Andrea Garbald (1877-1958), der erste und einzige professionelle Fotograf im Bergell, hinterliess eine umfangreiche Sammlung an Fotografien, die er zusammen mit Büchern, Zeitschriften und Geräten in Castasegna auf dem Dachstock seines Hauses deponiert hatte. Einige dieser Fotos wurden in Ausstellungen gezeigt und in Büchern veröffentlicht. Viele der Menschen auf den Fotografien von Andrea Garbald blieben aber namenlos – ihre Gesichter schweigen. Der Fotograf hinterliess nämlich kein geordnetes Verzeichnis seiner Werke, und das Entstehungsjahr seiner Aufnahmen verliert sich oft im Ungewissen.
Es ist deshalb umso bemerkenswerter – ja geradezu bewegend –, wenn es gelingt, einer dieser stillen Figuren plötzlich einen Namen zu geben, ihre Lebensgeschichte nachzuzeichnen und ihren Platz im kulturellen Umfeld der Familie Garbald zu erkennen.
Dies ist nun bei einigen stillen Portraits, die Andrea Garbald um das Jahr 1920 in Castasegna und am Comersee realisierte, gelungen: die junge Frau mit dunklen Augen und langen Zöpfen war die damals sechzehnjährige Dorothea Däscher (1904–1992) aus Klosters. Während eines Jahres lebte sie in Castasegna und half im Haushalt der Schriftstellerin Silvia Andrea mit.
Sibylle Cerez-Meisser, die letzte noch lebende Tochter des Ehepaars Markus und Dorothea Meisser-Däscher, zeichnete im Herbst 2025 die Geschichte ihrer Mutter nach.
Dorothea Däscher, von Schiers nach Genf
Dorotheas Vater, Markus Däscher, stammte aus Schiers, ihre Mutter, Luzia Flütsch, aus Pusserein. Dorothea wurde in Schiers am 23. Juli 1904 geboren. Sie hatte eine ältere Schwester mit dem klangvollen Namen Burgunda und erhielt später noch einen kleinen Bruder namens Andres. Ihre frühen Kindheitsjahre verbrachte sie in Chur, ehe die Familie nach Klosters übersiedelte. Dort begegnet man ihr auf einem alten Klassenfoto: Sie ist etwa sieben Jahre alt und steht direkt hinter dem Kopf des Lehrers, Christian Kasper. Eine kleine Ironie des Lebens: jener Lehrer sollte später ihr Schwager werden; Dorotheas zukünftiger Ehemann, Luzius, hatte nämlich eine Schwester namens Ursula, die ihrerseits mit eben diesem Christian Kasper verheiratet war.
Markus Däscher, von Beruf Zimmermann, errichtete im Jahr 1923 ein eigenes Chalet in Klosters: das Chalet Bergfrieden, das bis heute besteht und sich noch immer im Besitz von Nachkommen des Paares Markus und Luzia befindet. Die Familie selbst bewohnte das obere Stockwerk, während die beiden anderen Etagen vermietet wurden. Nach Abschluss ihrer Schulzeit fassten die Eltern den Entschluss, Dorothea ins Bergell zu schicken, damit sie dort die italienische Sprache erlerne. So kam sie im Alter von 15 oder 16 Jahren, zu Beginn der 1920er-Jahre, zur Familie Garbald nach Castasegna. Dort unterstützte sie Frau Garbald im Haushalt und beim Kochen. Dabei machte sie Bekanntschaft mit Gerichten, die im Prättigau unbekannt waren – etwa Polenta oder geröstete Kastanien.
Die Familie Garbald genoss im Tal einen guten Ruf. Johanna Garbald geborene Gredig (1840–1935), stammte aus Zuoz und war Schriftstellerin und Dichterin; sie veröffentlichte unter dem Pseudonym Silvia Andrea. Ihr Mann, Agostino Garbald (1829–1909), war Zolleinnehmer und Naturwissenschaftler, ein Mann des Geistes ebenso wie der Grenze. Das Paar besass eine eindrucksvolle Bibliothek mit rund 2000 Bänden. Einer der Söhne, Andrea Garbald, war Fotograf. Nebenbei betrieb er ein Geschäft für Brillen und optische Geräte. Er dokumentierte mit seiner Kamera das Leben im Bergell und hinterliess ein wertvolles Bildarchiv. So finden sich unter seinen Aufnahmen auch Fotografien der Familie Giacometti – darunter ein Bild, auf dem man den jungen Alberto mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinen Brüdern erkennen kann.
Dorothea empfand grosse Freude an ihrem Aufenthalt im wunderschönen Haus der Familie Garbald. Dieses war im Jahr 1864 von keinem Geringeren als Gottfried Semper (1803-1879) – dem berühmten Architekten der Dresdner Semperoper und Mitbegründer der ETH Zürich – erbaut worden. In dieser kultivierten, von Kultur und Geist erfüllten Umgebung blühte Dorothea sichtlich auf. Es ist wohl kein Zufall, dass sich in jener Zeit ihr Sinn für das Schöne und ihre Liebe zur Literatur nachhaltig entfaltet haben.
Die Rückkehr und die Erinnerung
Als sie nach einem Jahr in Castasegna nach Klosters zurückkehrte, brachte sie ein besonderes Geschenk mit: ein Album mit Fotografien mit ihr selbst, aufgenommen von Andrea Garbald – eine zarte Erinnerung an eine prägende Zeit. Der Kontakt zur Familie Garbald blieb bestehen. Im Jahr 1926, auf dem Weg zu ihrer Hochzeitsreise nach Italien, stellte Dorothea ihren Ehemann Luzius Meisser den Garbalds persönlich vor – ein Zeichen der Verbundenheit, die über die Jahre hinweg nicht verblasst war.
Noch lange nach jenem Bergeller Aufenthalt sprach Dorothea mit leiser Wehmut und leuchtenden Augen von ihrem Jahr in Castasegna. Das Ehepaar Meisser-Däscher liess sich in Genf nieder, wo Luzius als Ingenieur im Büro des bedeutenden Bauingenieur Robert Maillart (1872-1940) arbeitete – jenem Pionier des Brückenbaus, dessen Büro er später nach dessen Tod übernehmen sollte. Heute lebt fast die gesamte Nachkommenschaft von Dorothea und Luzius in Genf. Aus ihrer Ehe gingen vier Kinder hervor – und im Laufe der Jahre wuchs die Familie stetig: zwölf Enkelkinder, 24 Urenkel und mittlerweile 21 Ururenkel.
Eine Fotoausstellung im Dunklen der Bergeller Nächte
Seit dem 7. November 2025 erscheinen im Garten des ehemaligen Hotels Piz Duan - im Dunklen der Nacht - Fotos mit Dorothea Däscher. Sie erinnern an eine im Sommer 2025 zufällig zustande gekommene Begegnung im Centro Giacometti mit Sibylle Cerez-Meisser, die auf den Spuren ihrer Mutter im Bergell unterwegs war und die nun dem Bergell zum Jahresende ein wunderbares Geschenk macht: mit wunderbaren Fotos erzählt sie uns die Geschichte ihrer Mutter Dorothea, die in Castasegna in Vergessenheit geraten war. Wir danken ihr ganz herzlich dafür.
Marco Giacometti