Das Bergell und Stampa
Die Besonderheit der Berglandschaft des Bergells sind seine steilen, dunkelgrauen Gipfel im Süden, über die Rudolf Staub schrieb: «Als mächtige intrusive Masse erhebt sich der Granit der Forno-Albigna-Bondasca-Gruppe zu einer felsigen Gebirgskette von unvergleichlicher Kühnheit, deren Zinnen und Wände, Türme und Spitzen, Platten und Schluchten in ihrer ungezähmten Wildheit in den gesamten Alpen ihresgleichen suchen.» Gerade diese Gipfel und die grossartige Natur des Bergells bildeten die Grundlage für die ersten malerischen Werke der Künstlerfamilie Giacometti.
Die ausgedehnte Berglandschaft mit ihren grossen Höhenunterschieden bedeutet zwar einerseits eine Gefahr von Naturgefahren, eröffnete aber mit dem Bau der Kraftwerke der Stadt Zürich im Jahr 1955 (ewz) die Chance für den Ausstieg aus der Armut, mit der die Bergeller Bevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert konfrontiert war.
Der Wald und die Lichtungen
Die Ost-West-Ausrichtung des Bergell-Tals und die steilen Berghänge in der Nähe von Stampa sorgen für eine dreimonatige Winterperiode ohne Sonneneinstrahlung im Talboden sowie für eine ausgeprägte Vielfalt der Baumarten: Während auf der sonnigen, nach Süden ausgerichteten Seite der Laubwald bis auf 1500 Meter über dem Meeresspiegel wächst, reicht der Nadelwald auf der schattigen gegenüberliegenden Seite bis hinunter in den Talgrund. Wälder und Wiesen verbinden sich zu einem Muster aus teilweise dunklen Lichtungen. Im Laufe des Jahres entfaltet der Wald ein Konzert der Farben, das sich in den Gemälden von Giovanni und Augusto Giacometti widerspiegelt.
Foto: Gianpiero Mazzoni
Ein Dorf an einem Unort
Das Dorf Stampa ist eine relativ junge Siedlung am westlichen Rand eines grossen Schuttkegel am Fusse des Piz Grand und in der Nähe des Flusses Maira. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts errichteten Mitglieder der Familie Stampa, die aus dem weiter oben gelegenen Dorf Vicosoprano stammten und auf der Suche nach neuem Wohnraum waren, ein erstes Haus weiter westlich, zwischen Borgonovo und Coltura. Sie gaben dem Ort ihren Namen. Doch der gewählte Standort war den Umweltbedingungen stark ausgesetzt: Während der Sommermonate verursachten Überschwemmungen der Maira und Erdrutsche vom Nordhang des Piz Grand regelmässig Schäden. Rüfen bahnten sich ihren Weg durch Waldschneidsen und Wiesen und strömten talwärts. Daher wurden Wohnhäuser und Stallgruppen relativ geschützt zwischen den verschiedenen Abflussrinnen errichtet. Nach und nach entstanden mehrere kleine Quartiere entlang der Strasse. Bis 1840 gab es nur einen schmalen Saumpfad, bevor die erste breitere Fahrstraße durch das Dorf gebaut wurde. Von grosser Bedeutung für das Dorfleben waren die Brunnen, die Trinkwasser für Mensch und Tier lieferten und zum Waschen genutzt wurden.
Stampa mit den Wohnhäusern der Giacometti-Familien und dem Maler-Atelier (Foto: Laura Ceretti)
Die Familien von Stampa
Menschen aus den Familien Fasciati, Santi, Silvestri und Salis folgten den Stampa in das neu gegründete Dorf und waren über 300 Jahre lang die fünf dominierenden Familien. Die ersten Giacometti kamen erst 1849 nach Stampa. Die Bewohner von Stampa lebten einst von der Landwirtschaft und Forstwirtschaft, hielten Rinder, Ziegen und Schafe und pendelten saisonal zwischen Stampa und den Ufern des Silsersees bei Maloja. Andere versuchten, ihren Lebensunterhalt mit dem Warentransport im Tal oder als Händler und Notare zu verdienen. Insgesamt war das Leben beschwerlich. Die Auswanderung war oft ein Ausweg.